Vatikanstadt, 29. Juni 2019
An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland
Liebe Brüder und Schwestern,
Die Betrachtung der Lesungen der österlichen Festzeit aus der
Apostelgeschichte hat mich bewegt, euch diesen Brief zu schreiben. In
diesen Lesungen begegnen wir der allerersten apostolischen Gemeinde,
die ganz von dem neuen Leben durchdrungen ist, das der Heilige Geist
geschenkt hat, der gleichzeitig alle Umstände so gefügt hat, dass daraus
gute Anlässe zur Verkündigung geworden sind. Die Jünger schienen
damals alles verloren zu haben und am ersten Tag der Woche,
zwischen Bitterkeit und Traurigkeit, hörten sie aus dem Munde einer
Frau, dass der Herr lebe. Nichts und niemand konnte das Eindringen des
Ostergeheimnisses in ihr Leben aufhalten und zugleich konnten die
Jünger nicht begreifen, was ihre Augen geschaut und ihre Hände
berührt haben (vgl. 1 Joh 1,1).
Angesichts dessen und mit der Überzeugung, dass der Herr «mit seiner
Neuheit immer unser Leben und unsere Gemeinschaft erneuern kann» 1 ,
möchte ich Euch nahe sein und Eure Sorge um die Zukunft der Kirche in
Deutschland teilen. Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer
Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die
neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung
berechtigt und notwendig ist. Die Sachlagen und Fragestellungen, die ich
mit Euren Hirten anlässlich des letzten Ad-limina -Besuches besprechen
konnte, finden sicherlich weiterhin Resonanz in Euren Gemeinden. Wie
bei jener Gelegenheit, möchte ich euch meine Unterstützung anbieten,
meine Nähe auf dem gemeinsamen Weg kundtun und zur Suche nach
einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation ermuntern.
1.
Mit Dankbarkeit betrachte ich das feine Netzwerk von
Gemeinden und Gemeinschaften, Pfarreien und Filialgemeinden, Schulen
und Hochschulen, Krankenhäusern und anderen Sozialeinrichtungen, die
1
Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 11.
2im Laufe der Geschichte entstanden sind und von lebendigem Glauben
Zeugnis ablegen, der sie über mehrere Generationen hinweg erhalten,
gepflegt und belebt hat. Dieser Glaube ist durch Zeiten gegangen, die
bestimmt waren von Leiden, Konfrontation und Trübsal, und zeichnet
sich gleichzeitig durch Beständigkeit und Lebendigkeit aus; auch heute
noch zeigt er sich in vielen Lebenszeugnissen und in Werken der
Nächstenliebe reich an Frucht. Die katholischen Gemeinden in
Deutschland in ihrer Diversität und Pluralität sind weltweit anerkannt für
ihr Mitverantwortungsbewusstsein und ihre Großzügigkeit, die es
verstanden hat, die Hand auszustrecken und die Umsetzung von
Evangelisierungsprozessen in Regionen in benachteiligten Gegenden mit
fehlenden Möglichkeiten zu erreichen und zu begleiten. Diese
Großherzigkeit hat sich in der jüngeren Geschichte nicht nur in Form von
ökonomischer und materieller Hilfe gezeigt, sondern auch dadurch, dass
sie im Laufe der Jahre zahlreiche Charismen geteilt und Personal
ausgesandt hat: Priester, Ordensfrauen und Ordensmänner sowie Laien,
die ganz treu und unermüdlich ihren Dienst und ihre Mission unter oft
sehr schwierigen Bedingungen erfüllt haben. 2 Ihr habt der Weltkirche
große heilige Männer und Frauen, große Theologen und Theologinnen
sowie geistliche Hirten und Laien geschenkt, die ihren Beitrag für das
Gelingen einer fruchtbaren Begegnung zwischen dem Evangelium und den
Kulturen geleistet haben, hin auf neue Synthesen und fähig, das Beste aus
beiden für zukünftige Generationen im gleichen Eifer der Anfänge zu
erwecken. 3 Dies ermöglichte bemerkenswerte Bemühungen, pastorale
Antworten auf die Herausforderungen zu finden, die sich Euch gestellt
haben.
Hingewiesen sei auch auf den von Euch eingeschlagenen ökumenischen
Weg, dessen Früchte sich anlässlich des Gedenkjahres „500 Jahre
Reformation“ gezeigt haben. Dieser Weg ermuntert zu weiteren
Initiativen im Gebet sowie zum kulturellen Austausch und zu Werken der
Vgl. Benedikt XVI., Begegnung mit den Deutschen Bischöfen in Köln, XX. Weltjugendtag (21.
August 2005).
3 Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 58.
2
3Nächstenliebe, die befähigen, die Vorurteile und Wunden der
Vergangenheit zu überwinden, damit wir die Freude am Evangelium
besser feiern und bezeugen können.
2.
Heute indes stelle ich gemeinsam mit euch schmerzlich die
zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was
dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller
Ebene einschließt. Diese Situation lässt sich sichtbar feststellen, wie dies
bereits Benedikt XVI. aufgezeigt hat, nicht nur «im Osten, wie wir wissen,
wo ein Großteil der Bevölkerung nicht getauft ist und keinerlei Kontakt
zur Kirche hat und oft Christus überhaupt nicht kennt» 4 , sondern sogar in
sogenannten «traditionell katholischen Gebieten mit einem drastischen
Rückgang der Besucher der Sonntagsmesse sowie beim Empfang der
Sakramente» 5 . Es ist dies ein sicherlich facettenreicher und weder bald
noch leicht zu lösender Rückgang. Er verlangt ein ernsthaftes und
bewusstes Herangehen und fordert uns in diesem geschichtlichen Moment
wie jenen Bettler heraus, wenn auch wir das Wort des Apostels hören:
«Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im
Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!» (Apg 3,6).
3.
Um dieser Situation zu begegnen, haben Eure Bischöfe einen
synodalen Weg vorgeschlagen. Was dieser konkret bedeutet und wie er
sich entwickelt, wird sicherlich noch tiefer in Betracht gezogen werden
müssen. Meinerseits habe ich meine Betrachtungen zum Thema
Synodalität anlässlich der Feier des 50-jährigen Bestehens der
Bischofssynode dargelegt 6 . Es handelt sich im Kern um einen synodos ,
einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes. Das aber
bedeutet, sich gemeinsam auf den Weg zu begeben mit der ganzen Kirche
unter dem Licht des Heiligen Geistes, unter seiner Führung und seinem
Aufrütteln, um das Hinhören zu lernen und den immer neuen Horizont
zu erkennen, den er uns schenken möchte. Denn die Synodalität setzt die
Benedikt XVI., Begegnung mit den Deutschen Bischöfen in Köln, XX. Weltjugendtag (21.
August 2005).
5 Franziskus, Ad limina Besuch der Deutschen Bischöfe (20. November 2015).
6 Vgl. Franziskus, Apostolische Konstitution Episcopalis communio (15. September 2018).
4
4Einwirkung des Heiligen Geistes voraus und bedarf ihrer.
Anlässlich der letzten Vollversammlung der italienischen Bischöfe hatte
ich die Gelegenheit, diese für das Leben der Kirche zentrale Wirklichkeit
nochmals in Erinnerung zu rufen, indem ich die doppelte Perspektive, die
sie verfolgt, einbrachte: «Synodalität von unten nach oben, das bedeutet
die Pflicht, für die Existenz und die ordnungsgemäßen Funktionsvorgänge
der Diözese, der Räte, der Pfarrgemeinden, für die Beteiligung der Laien
Sorge zu tragen… (vgl. cann. 469-494 CIC), angefangen bei der Diözese. So
ist es nicht möglich eine große Synode zu halten, ohne die Basis in
Betracht zu ziehen… Dann erst kommt die Synodalität von oben nach
unten», die es erlaubt, in spezifischer und besonderer Weise die kollegiale
Dimension des bischöflichen Dienstes und des Kirche-Seins zu leben 7 . Nur
so gelangen wir in Fragen, die für den Glauben und das Leben der Kirche
wesentlich sind, zu reifen Entscheidungen. Möglich sein wird das unter
der Bedingung, dass wir uns auf den Weg machen, gerüstet mit Geduld
und der demütigen und gesunden Überzeugung, dass es uns niemals
gelingen wird, alle Fragen und Probleme gleichzeitig lösen zu können. Die
Kirche ist und wird immer Pilgerin auf dem Weg der Geschichte sein;
dabei ist sie Trägerin eines Schatzes in irdenen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7).
Das ruft uns in Erinnerung: In dieser Welt wird die Kirche nie
vollkommen sein, während ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit in jenem
Schatz gründet, zu dessen Hüterin sie von Anfang an bestellt ist 8 .
Die aktuellen Herausforderungen sowie die Antworten, die wir geben,
verlangen im Blick auf die Entwicklung eines gesunden aggiornamento
Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23; Konzilsdekret über den
Dienst der Bischöfe Christus Dominus, 3. Mit einem Zitat der Internationale
Theologenkommission aus deren jüngstem Dokument Die Synodalität im Leben und in der
Sendung der Kirche, sagte ich den italienischen Bischöfen: «Die Kollegialität ist deshalb die
spezifische Form in der die kirchliche Synodalität zum Ausdruck kommt; sie verwirklicht sich
durch den Dienst der Bischöfe auf der Ebene der communio unter den Teilkirchen einer Region
und durch die communio unter allen Teilkirchen in der Weltkirche. Ein jeder authentischer
Ausdruck der Synodalität verlangt wesensmäßig den kollegialen Dienst der Bischöfe», cf.
Ansprache an die Italienische Bischofskonferenz (20. Mai 2019).
8 Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 8.
7
5«einen langen Reifungsprozess und die Zusammenarbeit eines ganzen
Volkes über Jahre hinweg» 9 . Dies regt das Entstehen und Fortführen von
Prozessen an, die uns als Volk Gottes aufbauen, statt nach unmittelbaren
Ergebnissen mit voreiligen und medialen Folgen zu suchen, die flüchtig
sind wegen mangelnder Vertiefung und Reifung oder weil sie nicht der
Berufung entsprechen, die uns gegeben ist.
4.
In diesem Sinne kann man bei aller ernsthaften und
unvermeidlichen Reflexion leicht in subtile Versuchungen geraten, denen
man, meines Erachtens, besondere Aufmerksamkeit schenken und deshalb
Vorsicht walten lassen sollte, da sie uns, alles andere als hilfreich für einen
gemeinsamen Weg, in vorgefassten Schemata und Mechanismen
festhalten, die in einer Entfremdung oder einer Beschränkung unserer
Mission enden. Mehr noch kommt als erschwerender Umstand hinzu:
Wenn wir uns dieser Versuchungen nicht bewusst sind, enden wir leicht in
einer komplizierten Reihe von Argumentationen, Analysen und Lösungen
mit keiner anderen Wirkung, als uns von der wirklichen und täglichen
Begegnung mit dem treuen Volk und dem Herrn fernzuhalten.
5.
Die derzeitige Situation anzunehmen und sie zu ertragen,
impliziert nicht Passivität oder Resignation und noch weniger
Fahrlässigkeit; sie ist im Gegenteil eine Einladung, sich dem zu stellen, was
in uns und in unseren Gemeinden abgestorben ist, was der
Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf. Das aber
verlangt Mut, denn, wessen wir bedürfen, ist viel mehr als ein struktureller,
organisatorischer oder funktionaler Wandel.
Ich erinnere daran, was ich anlässlich der Begegnung mit euren
Oberhirten im Jahre 2015 sagte, dass nämlich eine der ersten und größten
Versuchungen im kirchlichen Bereich darin bestehe zu glauben, dass die
Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf
dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu
9
Yves Congar, Vera e falsa riforma nella Chiesa, 259.
6erreichen sei, dass diese aber schlussendlich in keiner Weise die vitalen
Punkte berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen. «Es handelt
sich um eine Art neuen Pelagianismus, der dazu führt, unser Vertrauen
auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat. Eine
übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und
ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen (vgl. Evangelii
gaudium , 32)» 10 .
Die Grundlage dieser Versuchung ist der Gedanke, die beste Antwort
angesichts der vielen Probleme und Mängel bestehe in einem
Reorganisieren der Dinge, in Veränderungen und in einem
“Zurechtflicken”, um so das kirchliche Leben zu ordnen und glätten,
indem man es der derzeitigen Logik oder jener einer bestimmten Gruppe
anpasst. Auf einem solchen Weg scheinen alle Schwierigkeiten gelöst zu
sein und scheinbar finden die Dinge wieder ihre Bahn, so das kirchliche
Leben eine “ganz bestimmte” neue oder alte Ordnung findet, die dann die
Spannungen beendet, die unserem Mensch-Sein zu eigen sind und die das
Evangelium hervorrufen will 11 .
Auf diese Weise wären Spannungen im kirchlichen Leben nur scheinbar
zu beseitigen. Nur „in Ordnung und im Einklang” sein zu wollen, würde
mit der Zeit lediglich das Herz unseres Volkes einschläfern und zähmen
und die lebendige Kraft des Evangeliums, die der Geist schenken möchte,
verringern oder gar zum Schweigen bringen: «Das aber wäre die größte
Sünde der Verweltlichung und verweltlichter Geisteshaltung gegen das
Evangelium» 12 . So käme man vielleicht zu einem gut strukturierten und
funktionierenden, ja sogar „modernisierten“ kirchlichen Organismus; er
bliebe jedoch ohne Seele und ohne die Frische des Evangeliums. Wir
würden lediglich ein „gasförmiges“, vages Christentum, aber ohne den
Franziskus, Ansprache an die Deutsche Bischofkonferenz (20. November 2015).
Schlussendlich ist es die Logik eines technokratischen Denkens, das sich allen
Entscheidungen, Beziehungen und Nuancen unseres Lebens aufnötigt (vgl. Franziskus,
Enzyklika Laudato si’, 106-114). Deshalb beeinflusst eine solche Logik auch unser Denken und
Fühlen und unsere Art und Weise, Gott und den Nächsten zu lieben.
12 Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).
10
11
7notwendigen „Biss“ des Evangeliums, leben 13 . «Heute sind wir gerufen,
Ungleichgewichte und Missverhältnisse zu bewältigen. Wir werden nicht
in der Lage sein, irgendetwas Gutes zu tun, was dem Evangelium
entspricht, wenn wir davor Angst haben» 14 . Wir dürfen nicht vergessen,
dass es Spannungen und Ungleichgewichte gibt, die den Geschmack des
Evangeliums haben, die beizubehalten sind, weil sie neues Leben
verheißen.
6.
Daher erscheint es mir wichtig, das nicht aus den Augen zu
verlieren, was «die Kirche wiederholt gelehrt hat, dass wir nicht durch
unsere Werke oder unsere Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern
durch die Gnade des Herrn, der die Initiative ergreift» 15 . Ohne diesen Blick
der göttlichen Tugenden laufen wir Gefahr, in den verschiedenen
Erneuerungsbestrebungen das zu wiederholen, was heute die kirchliche
Gemeinschaft daran hindert, die barmherzige Liebe Gottes zu
verkündigen. Die Art und Weise der Annahme der derzeitigen Situation
wird bestimmend sein für die Früchte, die sich daraus entwickeln werden.
Darum appelliere ich, dass dies unter dem Blickwinkel der göttlichen
Tugenden geschehen soll. Das Evangelium der Gnade mit der
Heimsuchung des Heiligen Geistes sei das Licht und der Führer, damit ihr
euch diesen Herausforderungen stellen könnt. Sooft eine kirchliche
Gemeinschaft
versucht
hat,
alleine
aus
ihren
Problemen
herauszukommen, und lediglich auf die eigenen Kräfte, die eigenen
Methoden und die eigene Intelligenz vertraute, endete das darin, die Übel,
die man überwinden wollte, noch zu vermehren und aufrechtzuerhalten.
Die Vergebung und das Heil sind nicht etwas, das wir erkaufen müssen,
«oder was wir durch unsere Werke oder unsere Bemühungen erwerben
müssen. Er vergibt und befreit uns unentgeltlich. Seine Hingabe am Kreuz
Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 97: «Gott befreie uns von einer
weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende
Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns
davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser
Leere. Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!».
14 Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).
15 Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 52.
13
8ist etwas so Großes, dass wir es weder bezahlen können noch sollen, wir
können dieses Geschenk nur mit größter Dankbarkeit entgegennehmen,
voll Freude, so geliebt zu werden, noch bevor wir überhaupt daran
denken» 16 .
Das gegenwärtige Bild der Lage erlaubt uns nicht, den Blick dafür zu
verlieren, dass unsere Sendung sich nicht an Prognosen, Berechnungen
oder ermutigenden oder entmutigenden Umfragen festmacht, und zwar
weder auf kirchlicher, noch auf politischer, ökonomischer oder sozialer
Ebene
und ebenso wenig
an erfolg-reichen Ergebnissen unserer
Pastoralplanungen 17 . Alles das ist von Bedeutung, auch diese Dinge zu
werten, hinzuhören, auszuwerten und zu beachten; in sich jedoch
erschöpft sich darin nicht unser Gläubig-Sein. Unsere Sendung und
unser Daseinsgrund wurzelt darin, dass «Gott die Welt so sehr geliebt
hat, dass er seinen einzigen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn
glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben» (Joh
3,16). «Ohne neues Leben und echten, vom Evangelium inspirierten
Geist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ wird
jegliche neue Struktur in kurzer Zeit verderben» 18 . Deshalb kann der
bevorstehende Wandlungsprozess nicht ausschließlich reagierend auf
äußere Fakten und Notwendigkeiten antworten, wie es zum Beispiel der
starke Rückgang der Geburtenzahl und die Überalterung der Gemeinden
sind, die nicht erlauben, einen normalen Generationen-wechsel ins Auge
zu fassen. Objektive und gültige Ursachen würden jedoch, werden sie
isoliert vom Geheimnis der Kirche betrachtet, eine lediglich reaktive
Haltung – sowohl positiv wie negativ – begünstigen und anregen. Ein
wahrer Wandlungsprozess beantwortet, stellt aber zugleich auch
Anforderungen, die unserem Christ-Sein und der ureigenen Dynamik der
Franziskus, Nachtsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, 121.
Eine Haltung, die entweder einen Geist des uneingeschränkten Verlangens nach Erfolg
entfacht im Falle günstigen Windes oder eine Opferhaltung hervorbringt, wenn „es gilt, gegen
den Wind zu rudern“. Diese Denkweisen sind dem Geist des Evangeliums fremd und lassen
eine elitäre Glaubenspraxis durchscheinen. Weder das eine, noch das andere; der Christ lebt
aus der Danksagung.
18 Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 26.
16
17
9Evangelisierung der Kirche entspringen; ein solcher Prozess verlangt eine
pastorale Bekehrung. Wir werden aufgefordert, eine Haltung
einzunehmen, die darauf abzielt, das Evangelium zu leben und transparent
zu machen, indem sie mit «dem grauen Pragmatismus des täglichen Lebens
der Kirche bricht, in dem anscheinend alles normal abläuft, aber in
Wirklichkeit der Glaube nachlässt und ins Schäbige absinkt» 19 . Pastorale
Bekehrung ruft uns in Erinnerung, dass die Evangelisierung unser
Leitkriterium schlechthin sein muss, unter dem wir alle Schritte erkennen
können, die wir als kirchliche Gemeinschaft gerufen sind in Gang zu
setzen gerufen sind; Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche
Sendung der Kirche 20 .
7.
Deshalb ist es, wie Eure Bischöfe bereits betont haben,
notwendig, den Primat der Evangelisierung zurückzugewinnen, um die
Zukunft mit Vertrauen und Hoffnung in den Blick zu nehmen, denn «die
Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit, sich selbst zu
evangelisieren. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter
und gepredigter Hoffnung, als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muss die
Kirche unablässig selbst vernehmen, was sie glauben muss, welches die
Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot der Liebe ist» 21 .
Die so gelebte Evangelisierung ist keine Taktik kirchlicher
Neupositionierung in der Welt von heute, oder kein Akt der
Eroberung, der Dominanz oder territorialen Erweiterung; sie ist keine
„Retusche“, die die Kirche an den Zeitgeist anpasst, sie aber ihre
Originalität und ihre prophetische Sendung verlieren lässt. Auch
bedeutet Evangelisierung nicht den Versuch, Gewohnheiten und
Praktiken
zurückzugewinnen,
die
in
anderen
kulturellen
Zusammenhängen einen Sinn ergaben. Nein, die Evangelisierung ist ein
Weg der Jüngerschaft in Antwort auf die Liebe zu Dem, der uns zuerst
geliebt hat (vgl. 1 Joh 4,19); ein Weg also, der einen Glauben
Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 83.
Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 14.
21 Ebd, 15.
19
20
10ermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und bezeugt wird.
Die Evangelisierung führt uns dazu, die Freude am Evangelium
wiederzugewinnen, die Freude, Christen zu sein. Es gibt ganz sicher
harte Momente und Zeiten des Kreuzes; nichts aber kann die
übernatürliche Freude zerstören, die es versteht sich anzupassen, sich zu
wandeln und die immer bleibt, wie ein wenn auch leichtes Aufstrahlen
von Licht, das aus der persönlichen Sicherheit hervorgeht, unendlich
geliebt zu sein, über alles andere hinaus. Die Evangelisierung bringt innere
Sicherheit hervor, «eine hoffnungsfrohe Gelassenheit, die eine
geistliche Zufriedenheit schenkt, die für weltliche Maßstäbe
unverständlich ist» 22 . Verstimmung, Apathie, Bitterkeit, Kritiksucht sowie
Traurigkeit sind keine guten Zeichen oder Ratgeber; vielmehr gibt es
Zeiten in denen «die Traurigkeit mitunter mit Undankbarkeit zu tun hat:
Man ist so in sich selbst verschlossen, dass man unfähig wird, die
Geschenke Gottes anzuerkennen» 23 .
8.
Deshalb muss unser Hauptaugenmerk sein, wie wir diese Freude
mitteilen: indem wir uns öffnen und hinausgehen, um unseren Brüdern
und Schwestern zu begegnen, besonders jenen, die an den Schwellen
unserer Kirchentüren, auf den Straßen, in den Gefängnissen, in den
Krankenhäusern, auf den Plätzen und in den Städten zu finden sind. Der
Herr drückte sich klar aus: «Sucht aber zuerst sein Reich und seine
Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben» (Mt 6,33). Das
bedeutet hinauszugehen, um mit dem Geist Christi alle Wirklichkeiten
dieser Erde zu salben, an ihren vielfältigen Scheidewegen, ganz besonders
dort, «wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, um mit dem
Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen» 24 . Das
bedeutet mitzuhelfen, dass das Leiden Christi wirklich und konkret jenes
vielfältige Leiden und jene Situationen berühren kann, in denen sein
Angesicht weiterhin unter Sünde und Ungleichheit leidet. Möge dieses
Leiden den alten und neuen Formen der Sklaverei, welche Männer und
Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 125.
Ebd, 126.
24 Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 74.
22
23
11Frauen gleichermaßen verletzen, die Maske herunterreißen, besonders
heute, da wir immer neu ausländerfeindlichen Reden gegenüberstehen, die
eine Kultur fördern, die als Grundlage die Gleichgültigkeit, die
Verschlossenheit sowie den Individualismus und die Ausweisung hat. Und
es sei im Gegenzug das Leiden Christi, das in unseren Gemeinden und
Gemeinschaften, besonders unter den jüngeren Menschen, die
Leidenschaft für sein Reich erwecke!
Das fordert von uns, «einen geistlichen Wohlgefallen daran zu finden, nahe
am Leben der Menschen zu sein, bis zu dem Punkt, dass man entdeckt,
dass dies eine Quelle höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaft
für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk» 25 .
So müssten wir uns also fragen, was der Geist heute der Kirche sagt (vgl.
Offb 2,7), um die Zeichen der Zeit zu erkennen 26 , was nicht
gleichbedeutend ist mit einem bloßen Anpassen an den Zeitgeist (vgl. Röm
12,2). Alle Bemühungen des Hörens, des Beratens und der Unterscheidung
zielen darauf ab, dass die Kirche im Verkünden der Freude des
Evangeliums, der Grundlage, auf der alle Fragen Licht und Antwort finden
können, täglich treuer, verfügbarer, gewandter und transparenter wird 27 .
«Die Herausforderungen existieren, um überwunden zu werden. Seien wir
realistisch, doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und die
hoffnungsvolle Hingabe zu verlieren! Lassen wir uns die missionarische
Kraft nicht nehmen!» 28 .
9.
Das Zweite Vatikanische Konzil war ein wichtiger Schritt für die
Heranbildung des Bewusstseins, das die Kirche sowohl über sich selbst als
auch über ihre Mission in der heutigen Welt hat. Dieser Weg, der vor über
fünfzig Jahren begann, spornt uns weiterhin zu seiner Rezeption und
Weiterentwicklung an und ist jedenfalls noch nicht an seinem Ende
angelangt, insbesondere bezüglich der Synodalität, die berufen ist, sich auf
Ebd, 268.
Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 4; 11.
27 Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 28.
28 Ebd, 109.
25
26
12den verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens zu entfalten (Pfarrei,
Diözesen, auf nationaler Ebene, in der Weltkirche sowie in den
verschiedenen Kongregationen und Gemeinschaften). Es ist Aufgabe
dieses Prozesses, gerade in diesen Zeiten starker Fragmentierung und
Polarisierung sicherzustellen, dass der Sensus Ecclesiae auch tatsächlich in
jeder Entscheidung lebt, die wir treffen, und der alle Ebenen nährt und
durchdringt. Es geht um das Leben und das Empfinden mit der Kirche
und in der Kirche, das uns in nicht wenigen Situationen auch Leiden in
der Kirche und an der Kirche verursachen wird. Die Weltkirche lebt in
und aus den Teilkirchen 29 , so wie die Teilkirchen in und aus der
Weltkirche leben und erblühen; falls sie von der Weltkirche getrennt
wären, würden sie sich schwächen, verderben und sterben. Daraus ergibt
sich die Notwendigkeit, die Gemeinschaft mit dem ganzen Leib der Kirche
immer lebendig und wirksam zu erhalten. Das hilft uns, die Angst zu
überwinden, die uns in uns selbst und in unseren Besonderheiten isoliert,
damit wir demjenigen in die Augen schauen und zuhören oder damit wir
auf Bedürfnisse verzichten können und so denjenigen zu begleiten
vermögen, der am Straßenrand liegen geblieben ist. Manchmal kann sich
diese Haltung in einer minimalen Geste zeigen, wie jene des Vaters des
Verlorenen Sohnes, der die Türen offen hält, so dass der Sohn, wenn er
zurückkehrt, ohne Schwierigkeiten eintreten kann 30 . Das bedeutet nicht,
nicht zu gehen, nicht voranzuschreiten, nichts zu ändern und vielleicht
nicht einmal zu debattieren und zu widersprechen, sondern es ist einfach
die Folge des Wissens, dass wir wesentlich Teil eines größeren Leibes sind,
der uns beansprucht, der auf uns wartet und uns braucht, und den auch
wir beanspruchen, erwarten und brauchen. Es ist die Freude, sich als Teil
des heiligen und geduldigen treuen Volkes Gottes zu fühlen.
Die anstehenden Herausforderungen, die verschiedenen Themen und
Fragestellungen können nicht ignoriert oder verschleiert werden; man
muss sich ihnen stellen, wobei darauf zu achten ist, dass wir uns nicht in
ihnen verstricken und den Weitblick verlieren, der Horizont sich dabei
29
30
Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23.
Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 46.
13begrenzt und die Wirklichkeit zerbröckelt. «Wenn wir im Auf und Ab der
Konflikte verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der
Wirklichkeit» 31 . In diesem Sinne schenkt uns der Sensus Ecclesia e diesen
weiten Horizont der Möglichkeit, aus dem heraus versucht werden kann,
auf die dringenden Fragen zu antworten. Der Sensus Ecclesiae erinnert uns
zugleich an die Schönheit des vielgestaltigen Angesichts der Kirche 32 .
Dieses Gesicht ist vielfältig, nicht nur aus einer räumlichen Perspektive
heraus, in ihren Völkern, Rassen und Kulturen 33 , sondern auch aus ihrer
zeitlichen Wirklichkeit heraus, die es uns erlaubt, in die Quellen der
lebendigsten und vollsten Tradition einzutauchen. Ihrerseits ist diese
Tradition berufen, das Feuer am Leben zu erhalten, statt lediglich die
Asche zu bewahren 34 . Sie erlaubt es allen Generationen, die erste Liebe mit
Hilfe des Heiligen Geistes wieder zu entzünden.
Der Sensus Ecclesiae befreit uns von Eigenbrötelei und ideologischen
Tendenzen, um uns einen Geschmack dieser Gewissheit des Zweiten
Vatikanischen Konzils zu geben, als es bekräftigte, dass die Salbung des
Heiligen (vgl. 1 Joh 2,20. 27) zur Gesamtheit der Gläubigen gehört 35 . Die
Gemeinschaft mit dem heiligen und treuen Volk Gottes, dem Träger der
Salbung, hält die Hoffnung und die Gewissheit am Leben, dass der Herr
an unserer Seite wandelt und dass er es ist, der unsere Schritte stützt.
Ein gesundes gemeinsames Auf-dem-Weg-Sein muss diese
Überzeugung durchscheinen lassen in der Suche nach Mechanismen,
durch die alle Stimmen, insbesondere die der Einfachen und Kleinen,
Raum und Gehör finden. Die Salbung des Heiligen, die über den ganzen
kirchlichen Leib ausgegossen wurde, «verteilt besondere Gnaden unter den
Gläubigen eines jeden Standes und jeder Lebensbedingung und verteilt
seine Gaben an jeden nach seinem Willen (1 Kor 12,11). Durch diese macht
er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der
Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 226.
Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte, 40.
33 Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 13.
34 Gustav Mahler: „die Tradition ist die Gewähr für die Zukunft und nicht die Hüterin der
Asche“.
35 Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12.
31
32
14Kirche verschiedene Werke und Dienste zu übernehmen gemäß dem
Wort: Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben (1 Kor 12,7)» 36 .
Dies hilft uns, auf diese alte und immer neue Versuchung der Förderer des
Gnostizismus zu achten, die, um sich einen eigenen Namen zu machen
und den Ruf ihrer Lehre und ihren Ruhm zu mehren, versucht haben,
etwas immer Neues und Anderes zu sagen als das, was das Wort Gottes
ihnen geschenkt hat. Es ist das, was der heilige Johannes mit dem
Terminus proagon beschreibt (2 Joh 9); gemeint ist damit derjenige, der
voraus sein will, der Fortgeschrittene, der vorgibt über das „kirchliche
Wir“ hinauszugehen, das jedoch vor den Exzessen bewahrt, die die
Gemeinschaft bedrohen 37 .
10.
Deshalb achtet aufmerksam auf jede Versuchung, die dazu
führt, das Volk Gottes auf eine erleuchtete Gruppe reduzieren zu wollen,
die nicht erlaubt, die unscheinbare, zerstreute Heiligkeit zu sehen, sich an
ihr zu freuen und dafür zu danken. Diese Heiligkeit, die da lebt «im
geduldigen Volk Gottes: in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe
erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot
nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die
weiter lächeln. In dieser Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens
sehe ich die Heiligkeit der streitenden Kirche. Oft ist das die Heiligkeit
„von nebenan“, derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein
Widerschein der Gegenwart Gottes sind» 38 . Das ist die Heiligkeit, die die
Kirche vor jeder ideologischen, pseudo-wissenschaftlichen und
manipulativen Reduktion schützt und immer bewahrt hat. Diese Heiligkeit
regt uns an, erinnert daran und lädt ein, diesen marianischen Stil im
missionarischen Wirken der Kirche zu entwickeln, die so in der Lage ist,
Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit, Kontemplation mit Aktion und
Zärtlichkeit mit Überzeugung auszudrücken. «Denn jedes Mal, wenn wir
auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der
Zärtlichkeit und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut und die
Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12.
Vgl. Joseph Ratzinger, Der Gott Jesu Christi, München 1976, 104-105.
38 Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 7.
36
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15Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind, die
nicht andere schlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtig zu
fühlen» 39 .
In meinem Heimatland gibt es ein zum Nachdenken anregendes und
kraftvolles Sprichwort, das das erhellen kann: «Vereint seien die Brüder,
denn das ist das erste Gesetz; sie mögen die Einheit wahren zu jeder Zeit,
denn wenn sie untereinander kämpfen, werden sie von den
Außenstehenden verschlungen» 40 . Brüder und Schwestern, haben wir
Sorge füreinander! Achten wir auf die Versuchung durch den Vater der
Lüge und der Trennung, den Meister der Spaltung, der beim Antreiben
der Suche nach einem scheinbaren Gut oder einer Antwort auf eine
bestimmte Situation letztendlich den Leib des heiligen und treuen Volkes
Gottes zerstückelt! Begeben wir uns als apostolische Körper gemeinsam
auf den Weg und hören wir einander unter der Führung des Heiligen
Geistes – auch wenn wir nicht in gleicher Weise denken – aus der weisen
Überzeugung heraus, dass «die Kirche im Gang der Jahrhunderte ständig
der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegenstrebt, bis an ihr sich Gottes
Worte erfüllen» 41 .
11.
Die synodale Sichtweise hebt weder Gegensätze oder
Verwirrungen auf, noch werden durch sie Konflikte den Beschlüssen eines
„guten Konsenses“, die den Glauben kompromittieren, den Ergebnissen
von Volkszählungen oder Erhebungen, die sich zu diesem oder jenem
Thema ergeben, untergeordnet. Das wäre sehr einschränkend. Mit dem
Hintergrund und der Zentralität der Evangelisierung und dem Sensus
Ecclesiae als bestimmende Elemente unserer kirchlichen DNA beansprucht
die Synodalität bewusst eine Art und Weise des Kirche-Seins anzunehmen,
bei dem «das Ganze mehr ist als der Teil, und es ist auch mehr als ihre
einfache Summe. Man darf sich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, die
begrenzte Sondersituationen betreffen, sondern muss immer den Blick
Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 288.
José Hernandez, Martín Fierro, secunda parte, Decimoséptima sextina.
41 II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.
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16weiten, um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt.
Das darf allerdings nicht den Charakter einer Flucht oder einer
Entwurzelung haben. Es ist notwendig, die Wurzeln in den fruchtbaren
Boden zu senken und in die Geschichte des eigenen Ortes, die ein
Geschenk Gottes ist. Man arbeitet im Kleinen, mit dem, was in der Nähe
ist, jedoch mit einer weiteren Perspektive» 42 .
12.
Dies verlangt vom ganzen Volk Gottes und besonders von ihren
Hirten eine Haltung der Wachsamkeit und der Bekehrung, die es
ermöglicht, das Leben und die Wirksamkeit dieser Wirklichkeiten zu
erhalten. Die Wachsamkeit und die Bekehrung sind Gaben, die nur der
Herr uns schenken kann. Uns muss es genügen, durch Gebet und Fasten
um seine Gnade zu bitten. Immer hat es mich beeindruckt, wie der Herr
während seines irdischen Lebens, insbesondere in den Augenblicken
großer Entscheidungen, in besonderer Weise versucht wurde. Gebet und
Fasten hatten eine besondere und bestimmende Bedeutung für sein
gesamtes nachfolgendes Handeln (vgl. Mt 4,1-11). Auch die Synodalität
kann sich dieser Logik nicht entziehen und muss immer von der Gnade
der Umkehr begleitet sein, damit unser persönliches und
gemeinschaftliches Handeln sich immer mehr der Kenosis Christi
angleichen und sie darstellen kann (vgl. Phil 2,1-11). Als Leib Christi
sprechen, handeln und antworten, bedeutet auch, in der Art und Weise
Christi mit den gleichen Haltungen, mit derselben Umsicht und denselben
Prioritäten zu sprechen und zu handeln. Dem Beispiel des Meisters
folgend, der «sich selbst entäußerte, und wie ein Sklave wurde» (Phil 2,7),
befreit uns die Gnade der Bekehrung deshalb von falschen und sterilen
Protagonismen. Sie befreit uns von der Versuchung, in geschützten und
bequemen Positionen zu verharren, und lädt uns ein, an die Ränder zu
gehen, um uns selbst zu finden und besser auf den Herrn zu hören.
Diese Haltung der Entäußerung erlaubt es uns auch, die kreative und
immer reiche Kraft der Hoffnung zu erfahren, die aus der Armut des
Evangeliums geboren wurde, zu der wir berufen sind; sie macht uns frei
42
Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 235.
17zur Evangelisierung und zum Zeugnis. So erlauben wir dem Geist, unser
Leben zu erfrischen und zu erneuern, indem er es von Sklaverei, Trägheit
und nebensächlichem Komfort befreit, die uns daran hindern,
hinauszugehen und, vor allem, anzubeten. Denn in der Anbetung erfüllt
der Mensch seine höchste Pflicht und sie erlaubt ihm, einen Blick auf die
kommende Klarheit zu werfen, die uns hilft, die neue Schöpfung zu
verkosten 43 .
Ohne diese Perspektive laufen wir Gefahr, von uns selbst oder vom
Wunsch nach Selbstrechtfertigung und Selbsterhaltung auszugehen, was
zu Veränderungen und Regelungen führt, die auf halbem Weg stecken
bleiben. Weit davon entfernt, die Probleme zu lösen, endet das darin, dass
wir uns in einer endlosen Spirale verfangen, und damit die schönste,
befreiende und verheißungsvolle Verkündigung erstickt und abtötet, die
wir haben und die unserer Existenz einen Sinn gibt: Jesus Christus ist der
Herr! Wir bedürfen des Gebetes, der Buße und der Anbetung, die es uns
ermöglichen, mit dem Zöllner zu sprechen: «Gott, sei mir Sünder gnädig!»
(Lk 18,13), nicht in heuchlerischer, infantiler oder kleinmütiger Weise,
sondern mit dem Mut, die Tür zu öffnen und das zu sehen, was
normalerweise durch Oberflächlichkeit, durch die Kultur des
Wohlbefindens und des Augenscheins verdeckt bleibt 44 .
Im Grunde genommen ermöglichen uns diese Geisteshaltungen – wahre
geistliche Heilmittel (Gebet, Buße und Anbetung) –, noch einmal zu
erfahren, dass Christ-Sein bedeutet, sich selig und gesegnet und somit
Träger der Glückseligkeit für die anderen zu wissen. Christ-Sein bedeutet,
der Kirche der Seligpreisungen für die Seliggepriesenen von heute
anzugehören: die Armen, die Hungrigen, die Weinenden, die Gehassten,
die Ausgeschlossenen und die Beschimpften (vgl. Lk 6,20-23). Vergessen
wir nicht: «In den Seligpreisungen zeigt der Herr uns den Weg. Wenn wir
den Weg der Seligpreisungen gehen, können wir zum wahrsten
menschlichen und göttlichen Glück gelangen. Die Seligpreisungen sind
43
44
Vgl. Romano Guardini, Pequeña Suma Teológica, Madrid 1963, 27-33
Vgl. J. M. Bergoglio, Sobre la acusación de sí, 2.
18der Spiegel, der uns mit einem Blick darauf kundtut, ob wir auf einem
richtigen Weg gehen: Dieser Spiegel lügt nicht» 45 !
13.
Liebe Brüder und Schwestern, ich weiß um eure Standfestigkeit und
mir ist bekannt, was ihr für den Namen des Herrn durchgestanden und
erduldet habt; ich weiß auch um eurem Wunsch und eurer Verlangen, die
erste Liebe in der Kirche mit der Kraft des Geistes wiederzubeleben (vgl.
Offb 2,1-5). Dieser Geist, der das gebrochene Schilfrohr nicht zerbricht
und den glimmenden Docht nicht auslöscht (vgl. Jes 42,3), nähre und
belebe das Gute, das euer Volk auszeichnet, und lasse es erblühen! Ich
möchte euch zur Seite stehen und euch begleiten in der Gewissheit, dass,
wenn der Herr uns für würdig hält, diese Stunde zu leben, Er das nicht
getan hat, um uns angesichts der Herausforderungen zu beschämen oder
zu lähmen. Vielmehr will er, dass Sein Wort einmal mehr unser Herz
herausfordert und entzündet, wie Er es bei euren Vätern getan hat, damit
eure Söhne und Töchter Visionen und eure Alten wieder prophetische
Träume empfangen (vgl. Joel 3,1). Seine Liebe «erlaubt uns, das Haupt zu
erheben und neu zu beginnen. Fliehen wir nicht vor der Auferstehung
Jesu, geben wir uns niemals geschlagen, was auch immer geschehen mag.
Nichts soll stärker sein als sein Leben, das uns vorantreibt!» 46 .
Und so bitte ich Euch, betet für mich!
Vatikan, den 29. Juni 2019
Franziskus Ansprache vor dem 5. Nationalen Kongress der Kirche in Italien, Florenz,
10. November 2015.
46 Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 3.